Haben Bibliotheken KundInnen?

I did it again! Ich habe in meinem Beitrag über „Innovation nicht nur in grossen Bibliotheken“ von „Bibliothekskunden“ gesprochen. Ein Kollege äusserte sich dann auf Twitter, er sei von mir „enttäuscht“. Wie er das wohl gemeint hat? Ich hatte auch schon intensive Diskussionen mit meinem Bürokollegen. Er spricht konsequent von Nutzerinnen und Nutzern, ich habe zu Beginn konsequent von Kunden (ja, auch von Kundinnen) gesprochen und tendiere mittlerweile zu beiden Varianten – ja nach Kontext.

Zunächst mal mein Plädoyer für die Bezeichnung der Menschen, welche die Dienstleistungen einer Bibliothek in Anspruch nehmen, als Kundinnen und Kunden: Ich blende zurück. Als ich 1997 meine Tätigkeit an der ETH-Bibliothek aufnahm, lief gerade eine Aktivität an der Hochschule in Richtung Qualitätsmanagement. Das New Public Mangement setzte sich in der Schweiz in den öffentlichen Verwaltungen langsam durch. Das Beamtenwesen wurde abgeschafft. Ich hatte noch die Erfahrung gemacht, dass man in Bibliotheken nicht als Kunde, sondern als Bittsteller behandelt wurde. Es kam nicht selten vor, dass Benutzerinnen und Benutzer als Störfaktor empfunden wurden, die von der eigentlich „wichtigen“ Arbeit ablenkten. Im Rahmen der erwähnten Aktion „Q“ wurde allen Verwaltungsmitarbeitenden und somit auch den Bibliothekarinnen und Bibliothekaren vermittelt, dass man die Dienstleistungen in Anspruchnehmenden als „Kunden“ zu betrachten und zu bedienen habe. Es wurden heftige Diskussionen über diese Bezeichnungen geführt. „Wir sind doch kein Geschäft, wir verkaufen doch nichts!“ Ich habe diese neue Perspektive sehr begrüsst. Sie rückte die Kundin/den Kunden ins Zentrum des Bibliotheksgeschäfts. Eine kundenorientierte Bibliothek ist für mich eine gute Bibliothek, die sich an den Bedürfnissen ihrer Nutzerinnen und Nutzer ausrichtet, dadurch stets neue Impulse aufnimmt und sich weiterentwickelt. Sie bezieht ihre Legitimation dadurch, dass sie attraktive Dienstleistungen erbringt, die Kunden respektvoll und freundlich behandelt und deren Wünschen (so weit möglich und sinnvoll) entspricht. Der Begriff Kunde wurde somit in Abgrenzung zum Benutzer oder Bittsteller geprägt und war sinnbildlich für eine Neuorientierung der Bibliotheken. Auch im Kontext Bibliotheksmanagement spreche ich deshalb gerne von Kundinnen und Kunden, auch von Kundenmanagement. Oder im Innovationsmanagement vom Einbezug der Kundinnen und Kunden, z.B. im Rahmen von Open Innovation.

Als ich dann in die Lehre und Forschung an der Fachhochschule wechselte, merkte ich in Diskussionen mit meinem informationswissenschaftlich ausgebildeten Kollegen, dass dieser mit dem Kundenbegriff wenig anfangen konnte. Er sprach konsequent von Nutzerinnen und Nutzern. Wir haben öfters über die Begrifflichkeiten und deren Bedeutung diskutiert, auch in gemeinsamen Lehrveranstaltungen. Für mich steht nun das Begriffspaar Nutzerin/Nutzer für eine neutrale, wissenschaftliche Perspektive. Als Forscher spreche ich nun auch von Nutzerforschung. Denn in der Forschung geht es darum, unabhängig von den Bibliotheksinteressen und der Bibliotheksperspektive zu fragen, was die Menschen tun, die sich in der Bibliothek aufhalten oder weshalb andere Menschen die Dienstleistungen (oder Räumlichkeiten) einer Bibliothek nicht in Anspruch nehmen.

Also: für mich stellen die Begriffe Kundin/Kunde bzw. Nutzerin/Nutzer zwei unterschiedliche Perspektiven dar: Bibliotheken sprechen von Kundinnen und Kunden und sollten ihre „Benutzerinnen“ und „Benutzer“ auch entsprechend behandeln. Dies ist die Grundlage für eine moderne, „kundenorientierte“ Bibliotheksarbeit. Forschende sprechen dagegen von Nutzerinnen und Nutzern, wenn sie unvoreingenommen das Verhalten der Menschen untersuchen oder interpretieren, welche die Dienstleistungen einer Bibliothek in Anspruch nehmen, bzw. von „NichtnutzerInnen“, falls sie dies nicht tun. Je nach Hut, den ich gerade trage, werde ich also auch in Zukunft den einen oder den anderen Begriff verwenden.

 

Autor: mrudolf

Director of University Library Zurich, former Director of State and University Library Lucerne (Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern), former Professor for Library Science at HTW Chur (university of applied sciences), co-editor of Informationspraxis, co-principal investigator of the Horizon Report Library Edition, blogging on library topics - and also on mindful living (in German as Männerherz)

5 Kommentare zu „Haben Bibliotheken KundInnen?“

  1. Hier nun meine Antwort:

    wir haben in der Diskussion um den KundInnenbegriff zwei zentrale Probleme. Einerseits diskutiert der gesamte wissenschaftliche Überbau der Bibliothekswissenschaften diesen ohne wissenschaftlichen Hintergrund. Es gibt zahlreiche Publikationen, die über die in der Bib.wiss. genutzten Managementthemen hinaus gehen, Stichwort Soziologie. Ich bin immer wieder fassungslos, dass insbesondere Bib.wiss. mit den Argumenten „für mich“, „nach meinem Gefühl“ oder „ich finde“ die Diskussion begleiten. Eine konkrete Auseinandersetzung findet gar nicht statt. Das zweite Problem ist, dass man positive Veränderungen in der Verwaltung mit der Einführung des KundInnenbegriffs und der Zielgruppenorientierung gleichsetzt. Auch diese Betrachtung geht letztlich am Thema vorbei. Das Grundproblem der tatsächlich vorhandenen BittstellerInnenposition gegenüber Verwaltungen in der zurückliegenden Zeit ist eine fehlgeleitete Herrschaftsposition der Verwaltung. Nicht der fehlende Blick auf vermeindliche KundInnen löste diese Situation aus, sondern das Selbstverständnis als ausführendes Organ eines Herrschaftssystems, kurz: ich Staat, du BittstellerIn. Der veränderte Blick auf sich selbst, d.h. auf einen durch demokratische Prozesse legitimierten Auftrag zur Erfüllung staatlich zu regelnder Aufgaben – nichts anderes ist Verwaltung und damit auch Bibliothek – verändert die eigene Arbeit. Betrachte ich mich als Teil eines Verständnisses, dass sich selbst über den BürgerInnen einordnet, betrachte ich diese als BitstellerInnen. Betrachte ich mich als Teil staatlicher Daseinsvorsorge, ist die vorangegangene Position obsolet bzw. absurd. Die Veränderung dieser Wahrnehmung ist entscheidend, nicht die Veränderung des Gegenüber.

    Das als kurze Einleitung – der Begriff ist weitaus komplexer, als die Bib.wiss. ihn wahrnimmt. Er definiert ein Menschenbild, er definiert damit auch unser bibliothekarisches Rollenverständnis und letztlich unsere Arbeit. Ich habe mit meinem hoch geschätzten Kollegen Gerhard Zschau eine Masterarbeit an der FU Berlin verfasst (Auf dem Weg zur demokratischen Bibliothek : aktuelle Perspektiven, Gefahren und Chancen), die dieses Thema mit einschließt, Sie sind herzlich eingeladen diese zu lesen und mit uns zu diskutieren. In naher Zukunft werden wir diese OA veröffentlichen, Sie können aber auch gerne im Vorweg einen Blick hinein werfen.

    1. Danke für den Kommentar! Ich bin gespannt auf die Arbeit. Ich habe auch den Text zu Demokratie in Bibliotheken im Blog (http://ultrabiblioteka.de/?p=1050) gelesen. Ich sehe zwar noch nicht, weshalb ich deswegen nicht von Kunden sprechen sollte. Ich sehe da noch keinen Widerspruch. Hinter dem Begriff steht das Konzept einer Institution, die ihren Daseinszweck primär damit begründet, für Ihre Nutzerinnen und Nutzer da zu sein und sich an deren Bedürfnissen auszurichten.

      Aber ich meine, ich verstehe, worauf die Argumentation des Blogbeitrags hinauslaufen könnte: Wenn Bibliotheken von Kunden sprechen, ist dies eine ungleiche Beziehung: hier Anbieter/Produzent, dort Kunde/Konsument. Letzterer ist passiv und insofern abhängig davon, dass der Dienstleister seine Bedürfnisse richtig interpretiert und entsprechend darauf eingeht. Und hier propagieren Sie ein neues Konzept (wenn ich das richtig verstehe): Der demokratische Ansatz geht von einem gleichgestellten Verhältnis aus. Hier entwickeln Nutzer/Kunde/Konsument/Dienstleistungsnehmer und Bibliothek gemeinsam die Angebote/Methoden/Produkte/Dienstleistungen. Vorbild sind dafür neue – demokratische und partizipative – Methoden aus der Schulentwicklung. Das führt uns zu einem neuen Begriff – so wie wir im technischen Umfeld heute vom Prosumer statt vom Consumer sprechen: die Trennung zwischen Anbieter/Dienstleister und Kunde/Nutzer wird überwunden.

  2. Ich freue mich sehr, dass tatsächlich mal jemand in die Argumentation einsteigt und einer Diskussion nicht schon vor dem Beginn aus dem Weg geht. Vielen Dank dafür!
    Der Blogartikel verweist tatsächlich auf die Grundlagen unseres Gedankenkonstruktes und erklärt nicht die Problematik des KundInnenbegriffs. Ich scheue mich dabei auch ein bißchen diesen in einem Kommentar anzugehen, da es doch komplex ist. Aber ich will wenigstens einen kleinen Gedanken hierzu anreißen:

    Der KundInnenbegriff beschreibt eine Rolle in einer Marktsituation, die auf möglichst ausgeglichenen Machtverhältnissen beruht. Ich habe Geld, jemand anderes ein Angebot und nun verhandeln wir einen Tauschwert – ein im Idealfall ausgeglichenes Machtverhältnis. Im Gegensatz zur Annahme der KundInnenbegriff würde den Fokus auf die Wünsche einer Seite verschieben, verschleiert dieser Begriff im falschen Kontext aber Machverhältnisse. Ein plakatives Beispiel: es gibt eine vielzahl gesellschaftlich bekannter und anerkannter Komplementärrollen, wie z.B. das Verhältnis Arzt/Ärztin zu PatientInnen, oder Anwalt/Anwältin zu MandantInnen. Diese beinhalten funktionale Problembezüge innerhalb des Systems in dem sie funktionieren. Als PatientIn vertraue ich bswp. darauf, dass die mich behandelnde Person entsprechend ihres hippokratischen Eides versucht die bestmögliche Behandlung für mich zu wählen. Ich gebe hierfür die Macht über meine gesundheitliche Unversehrtheit aus der Hand. Diese Rollenverteilung kennen wir alle. Ändern wir das Verhältnis aber und sind statt PatientInnen nun KundInnen, verändern wir das Machtverhältnis und die Grundstruktur dieser sozialen Interaktion. Wir begeben uns in eine Marktposition und mein Gegenüber leistet entsprechend nur das, was ich eintauschen kann. Gleiches gilt für verschiedenste Verhältnisse und dementsprechend auch für uns Bibliotheksmenschen. Erwartet jemand eine Information von mir, so legt er möglicherweise Macht in meine Hände, nämlich das Vertrauen in eine Informationsdienstleistung. Auch hier erwartet ihn als KundIn keine Verbesserung, sondern die Neuerung sich um ein Tauschverhältnis zu bemühen. In allen Fällen der staatlichen Daseinsvorsorge (also auch bei uns Bibliotheken?!) ist das Problem sogar noch größer. Durch meine Steuer- und Sozialabgaben, erlange ich ein gesetzlich zugesichertes Recht, bestimmte Dienstleistungen zu erhalten. Ein besonders krasses Beispiel sind hier die Arbeitsämter, die ihre KlientInnen nun mehr KundInnen nennen. Hier werden die Verhältnisse auf den Kopf gestellt. Das ergibt sich aus der Umkehrung der tatsächlichen Verhältnisse: der „Kunde“, in diesem Fall der Erwerbslose bzw. die Erwerbslose, möchte nichts kaufen, sondern erwartet eine Geldleistung. Das Anrecht auf diese Geldleistung hat dieser mittels einer Versicherungspflicht erworben.

    Wir haben also zwei Probleme bei diesem Begriff: er verschleiert Machtverhältnisse und verkennt gesellschaftlich bekannte und anerkannt Komplementärrollen, die unser Miteinander regeln. Dazu vielleicht noch ein Zitat, frei nach Bojan Godina:

    Diese „[…] durchaus human klingenden Begrifflichkeiten sollte[n] jedoch nicht dazu verleiten, das Absatzprinzip als das dahinterstehende Grundkonzept zu übersehen.“ Ziel ist es demnach, „[…] eine Wertehierarchie im Menschen zu postulieren und zu fördern, die sich an den Produkten des Konsums als höchstes menschliches Gut orientieren.“

    Zu Ihrem letzten Absatz: ja so ungefähr ist die Debatte zu beginnen. Transparenz eigener Entscheidungsstrukturen (z.B. Erwerbungen, Leitbilder (auch ein eigenes Thema)) ist dafür die Grundlage und die Einbindung der – und auch ich habe bisher keinen neuen Begriff gefunden, der dem der BibliothekarInnen gegenüber steht – LeserInnen in die Beschreibung des Auftrages einer Bibliothek. Ich sehe den Begriff LeserInnen aktuell auch noch nicht so problematisch. Er ist gesellschaftlich als Komplementärrolle zu uns BibliothekarInnen durchaus belegbar, sofern man ihn nicht ans Buch bindet sondern als Kulturtechnik versteht.
    Aber ja, was Schulen schaffen, die Aushandlung ganzer Schulprogramme mit allen an Schule beteiligten, können wir auch schaffen und es ist für jede Seite gewinnbringend, nicht nur was die Interessen aller Seiten angeht, sondern auch in demokratischen Sinne.

    Der Wert der Bibliothek für eine Demokratie ist überwältigent, wenn wir es richtig angehen.

  3. Ich mag nicht tief in die Diskussion einsteigen. Für mich als Verwaltungsrechtler sind die Nutznießer einer Bibliothek schlicht Anstaltsnutzer. Dass Empathie zu Menschen, die eine Bibliothek nutzen, mit zunehmender Entbeamtung steigt, erschließt sich mir nicht. Der einzige wirklich messbare Effekt dieser Maßnahme ist eine Kürzung der Bezüge bei den Beschäftigten und eine Zunahme befristeter Stellen ohne Aufstiegsperspektiven. So jedenfalls ist es in Deutschland; ich sage nur E9 statt A11. Was mir bei der Kundenorientierung zudem fehlt, ist die zeitliche Komponente. Wenn ich die aktuellen Interessen der gegenwärtigen Nutzer mitunter bewusst ignoriere, dann habe ich vielleicht die Nutzer im Blick, die in 50 Jahren erst ihre Bedürfnisse artikulieren werden. „Kundenorientierung“ in einer Gedächtnisinstitution ist mit simplen Modellen aus der BWL oder diversen Umfragen nicht angemessen zu beschreiben. Das nur als kurze Anmerkung. 🙂

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