Gedanken zur Zukunft wissenschaftlicher Informationsinfrastruktureinrichtungen (vormals „Bibliotheken“)

In der Keynote zur ASpB-Tagung 2013 in Kiel habe ich mir Gedanken zur Zukunft von Bibliotheken gemacht – in Anlehnung an die kurz zuvor erschienenen 10 Thesen zum zukünftigen Profil von wissenschaftlichen Informationsinfrastruktureinrichtungen von Klaus Tochtermann in Thesenform und mit der Bezeichnung „wissenschaftliche Informationsinfrastruktureinrichtungen“ für das, was man bisher Bibliotheken nannte. In der Diskussion nach dem Vortrag zeigte sich, dass einigen der Thesen mit „das tun wir doch schon lange“ begegnet wurde. Dazu eingangs noch einige Bemerkungen. Natürlich diskutiert man (gerade im deutschen Bibliothekswesen) schon länger von einer notwendigen verstärkten Kooperation. Und klar wissen Bibliotheken schon lange, dass man sich an den Kunden orientieren muss. Aber was ich bei diesen Punkten meine, sind wirklich neue Formen der Kooperation. Die aktuelle Diskussion um den DFG-Antrag Cloudbasierte Infrastruktur für Bibliotheksdaten zeigt etwa in diese Richtung. Und wenn ich von zielgruppenspezifischen Dienstleistungen spreche, meine ich, dass es nicht mehr genügt, die Wünsche der aktuellen Nutzerinnen und Nutzer zu kennen und „nach Möglichkeit“ zu berücksichtigen. Es geht hier auch darum, NichtnutzerInnen und ihre Gründe für die Nichtnutzung der Bibliothek zu kennen und die Arbeitsweisen und Bedarfe der potentiellen Kunden zu kennen. Und dann entsprechende Dienstleistungen anzubieten oder zu entwickeln. Kurz: wer jetzt sagt, „aber das tun wir doch alles schon lange“, der hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt.

Wohin führt die Zukunft wissenschaftlicher Bibliotheken? Zu dieser Frage habe ich 8 Thesen aufgestellt:

1. Externe Entwicklungen bestimmen die Zukunft von Bibliotheken massgeblich

In Gesellschaft, Politik, Wissenschaft, Technologie finden radikale Umwälzungen statt, auf die Bibliotheken keinen Einfluss nehmen können. Diese Entwicklungen definieren jedoch die Rahmenbedingungen für Bibliotheken massgeblich. Es gilt, dies als Tatsache zu akzeptieren und zu analysieren, worin dabei die Risiken und Chancen bestehen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit  können folgende Trends genannt werden:

  • Ebene Gesellschaft: Mobilität, Medienkonsum, Informationsnutzung
  • Ebene Politik: Recht (Datenschutz, Urheberrecht); Finanzen, Forderung nach Effizienz, professionellem Management, Return on Invest (ROI)
  • Ebene Wissenschaft: Publikation, Ranking, Impact; Zugang zu und Nutzung von Information, Mobilität, Interdisziplinarität, Internationalisierung, Kommunikation, Kollaboration
  • Ebene Technologie: Cloud Computing, mobile Nutzung, Web 2.0, Semantic Web inkl. LOD, Suchmaschinen, Speicher, Digitale Identität, NFC, Wearable Devices, 3D-Printing etc.

Was bedeutet dies nun für Bibliotheken?

2. Elektronische Informationsdienstleistungen werden überregional/national/ international erbracht

IT-basierte Dienste sind nicht nur in der Nutzung sondern auch in der Erbringung ortsunabhängig. Bedingt durch die Internationalisierung der Forschung und die Mobilität der Forschenden sind nicht lokale sondern nationale Dienstleistungen gefragt. Bei einem Wechsel der Hochschule verlieren Forschende und Studierende heute noch zu oft den Zugang zu (elektronischen) Ressourcen, die sie bisher für ihre Arbeit nutzten. Die Nähe oder Distanz zum Anbieter eines elektronischen Service spielt dabei keine Rolle. Dies gilt auch für den Zugriff auf E-Ressourcen: weg von Hochschullizenzen hin zu Nationallizenzen und Open Access. In der Lehre strebt man ein sog. e-Portfolio an, damit elektronische Studienunterlagen langfristig nutzbar bleiben. Grundlage dafür ist ein hochschulübergreifendes Identitätsmanagement, an das sich auch Bibliotheken mit ihrer Nutzerverwaltung anschliessen werden.

3. Bibliotheken bündeln ihre Kräfte: Konzentration, Kooperation

Einzelne Bibliotheken sind durch die hochkomplexen technischen Lösungen tendenziell überfordert. Heute versuchen jedoch immer noch viele Bibliotheken auf möglichst vielen Gebieten Schritt zu halten und bieten lokal oft eine breite Palette von Diensten an. Diese entsprechen dann zu oft nicht dem State of the Art, wie die Nutzer ihn von kommerziellen Anbietern kennen – und von der Bibliothek erwarten. Die Politik ist jedoch nicht länger bereit, die heutigen Doppelspurigkeiten zu finanzieren (wobei hier z.T. ein Widerspruch zu den Interessen der lokalen Trägerschaft der Bibliotheken, den Universitäten, besteht). Dieser Wille zur Zentralisierung zeigt sich z.B. in den Empfehlungen und Ausschreibungen des Wissenschaftsrats (http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/10463-11.pdf) oder der Schweizer Universitätsrektorenkonferenz (Programm Wissenschaftliche Information, http://www.crus.ch/information-programme/projekte-programme/suk-programm-2013-2016-p-2-wissenschaftliche-information-zugang-verarbeitung-und-speicherung.html) . Ziel dieses Programms ist der Aufbau von nationalen Services im Bereich der wissenschaftlichen Informationsinfrastruktur. Bibliotheken tun sich mit diesem Anspruch noch schwer. Aber diese künftigen Informationsinfrastrukturdienstleister müssen nicht zwingend Bibliotheken sein. Bibliotheken müssen enger als bisher kooperieren, um die Rolle des Anbieters von nationalen Services übernehmen zu können. Ich denke dabei an die Bildung von Kompetenzzentren und Konsortien, an die Kompetenzen und Ressourcen abgetreten werden. Gleichzeitig werden sich Bibliotheken auf diejenigen Services fokussieren, die sie besser als andere erbringen können. Und die übrigen Services von Kompetenzzentren, Konsortien oder kommerziellen Anbietern beziehen. Die dafür notwendige Aufteilung der Ressourcen wird in föderalen Strukturen jedoch nicht einfach sein.

4. Bibliothek als Raum löst sich von den e-Services

Die Funktion der Bibliothek als Erbringer von e-Services für die Wissenschaft löst sich von derjenigen als Ort des Lernens, Studierens und Forschens. Beides ist wichtig, doch besteht kein kausaler Zusammenhang zwischen den beiden Arten von Dienstleistungen. Die Rolle der Bibliothek als (Dritter) Ort wird angesichts der Virtualisierung und Digitalisierung weiterhin von grosser Bedeutung sein: Es braucht Lern- und Arbeitsplätze, Orte zum Verweilen und für sozialen Austausch sowie Dienstleistungen vor Ort für Forschende, Studierende und Lehrende, wie z.B. Beratung oder Angebote im Bereich Information Literacy. Hierzu gehören auch neue Rollen und Aufgaben für Bibliothekarinnen und Bibliothekare, wie sie z.B. von embedded librarians übernommen werden.

Zudem werden weiterhin einige e-Services lokal erbracht. Ich denke dabei an zielgruppenspezifische Anpassungen und Personalisierungen der zentral angebotenen Dienste (vgl. Punkt 8.). Ebenfalls auf lokale Bestände baut die Digitalisierung. Hier tritt die Bibliothek als Content Provider in Aktion. Es ist entscheidend, dass die digitalisierten Inhalte über offene Schnittstellen bereitgestellt werden, damit sie über Portale gefunden und genutzt werden können.

5. Services richten sich an Fachgebieten aus

Die wissenschaftlichen Informationsdienstleistungen richten sich nach Fachgebieten und nicht nach einzelnen Hochschulen aus. Je nach Fachgebiet bestehen sehr unterschiedliche Arbeitsmethoden und Informationsbedarfe. Forschende einer Fachrichtung haben mehr Gemeinsamkeiten als Forschende einer Hochschule. Deshalb ist es sinnvoller, die Angebote nach den Bedürfnissen der Forschenden einer Fachrichtung auszurichten. Bibliotheken werden entsprechend fachspezifische Dienste entwickeln und betreiben und sich spezialisieren, wie sich dies bei den Virtuellen Forschungsumgebungen zeigt.

6. Bibliotheken stehen in Konkurrenz zu kommerziellen Informationsdienstleistern

Nicht nur Bibliotheken, auch kommerzielle Anbieter (Verlage, Aggregatoren) wollen Forschenden komplette Informationsdienstleistungen anbieten. Bereits heute gibt es entsprechende Angebote kommerzieller Dienstleister als interaktive Forschungsplattformen, zur Publikation auch von Forschungsdaten und zur Vernetzung von Forschungsinhalten (z.B. SpringerLink). Allerdings sind diese Plattformen jeweils auf die eigenen Verlagsprodukte beschränkt. Bibliotheken könnten hier dem Wunsch von Forschenden entsprechend verlagsübergreifende Plattformen entwickeln und anbieten. Wobei hier auch schon die grossen Datenbanken (Web of Science, Scopus) aktiv sind. Und zur Entwicklung einer konkurrenzfähigen Plattform müssten wohl die Kräfte gebündelt werden.

7. Bibliotheken erweitern ihren Sammlungs- und Vermittlungsauftrag

Die Grenzen von Publikationsformen verschwimmen. Die Bibliotheken sind heute jedoch noch stark auf Monografien, Zeitschriftenbände und den Nachweis im OPAC fokussiert. Bibliotheken werden einzelne Artikel (wie z.B. im Wissensportal der ETH-Bibliothek), primäre Forschungsdaten (wie z.B. in OpenAIRE) und Mikro-Publikationen erschliessen und verfügbar machen. Diese Inhalte werden mittels semantischer Verfahren miteinander vernetzt und über Portale nutzbar gemacht.

8. Bibliotheken bieten personalisierte Dienste an

Bibliotheken kennen ihre Zielgruppen und deren Informationsbedarfe. Sie adaptieren zentral bereitgestellte Services so, dass sie den Bedürfnissen und Wünschen ihrer NutzerInnen entsprechen. Dabei ist die Kunden- bzw. Nutzerorientierung eine Grundlage. Sie sollte jedoch auf die Zielgruppen und somit auch auf die potentiellen NutzerInnen und die Nicht-NutzerInnen erweitert werden. Entsprechend werden nicht nur Kunden und ihre Zufriedenheit erfragt, sondern das Informationsnutzungsverhalten der Zielgruppen untersucht.

Fazit

Bibliotheken haben sich (zu) lange mit sich selbst und ihrer eigenen Welt beschäftigt. Doch das Umfeld verändert sich radikal. Entsprechend sind radikale Innovationen und Veränderungen gefragt. Bibliotheken fokussieren sich, konzentrieren sich auf ihre Stärken und kooperieren eng miteinander. Bibliotheken richten sich an den Bedürfnissen ihrer Zielgruppen aus und bieten lokal attraktive Dienste an, die auf überregionalen/nationalen Services basieren.

Autor: mrudolf

Director of State and University Library Lucerne (Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern), former Professor for Library Science at HTW Chur (university of applied sciences), co-editor of Informationspraxis, co-principal investigator of the Horizon Report Library Edition, blogging on library topics - and also on mindful living (in German as Männerherz)

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