Sind Bibliotheken überflüssig? Eine Replik

Die Aussagen von Rafael Ball in seinem Interview in der NZZ möchte ich nicht unbeantwortet lassen. Sie fordern geradezu eine Replik. Zum Teil finde ich die Argumentation richtig schwach, mit dem Tiefpunkt: „Jetzt ist das Internet da. Wer Inhalte sucht, braucht keine Bibliothek mehr.“ Dabei blendet Rafael Ball die Entwicklungen der letzten Jahre vor allem in den Öffentlichen Bibliotheken aus. Das vielzitierte Beispiel des Dokk1 in Aarhus zeigt tatsächlich, in welche Richtung die Entwicklung geht: Bibliotheken als offener Raum zum Lernen und Erfahren, der freien und gleichen Zugang zum Teilen und Vermitteln von Wissen bietet:

Mediaspace must be an open space for learning and experience, rethinking the physical frames for the library and provide free and equal access to knowledge sharing and knowledge distribution.

Zustimmen kann ich Rafael Ball bei der Aussage, dass Bibliotheken nicht mehr als Bücherspeicher funktionieren dürfen. Diese Aufgabe tritt tatsächlich immer mehr in den Hintergrund, was für die Branche absolut nichts Neues ist. Das Ende des Primats des Bestands haben wir um die Jahrtausendwende bereits diskutiert und gefordert. Aktuell lautet die Devise: from collection to connection. Vernetzung der NutzerInnen untereinander und mit Medien und Informationsressourcen stehen im Vordergrund. Aber: Bücher bleiben wichtig, sogar imDokk1. So heisst es auf der Homepage:

In the library, we make digital media a priority and we are constantly keeping abreast of the future. We still have lots of books as well, of course.

Das mag für eine wissenschaftliche Bibliothek im Bereich Science, Technology and Medicine, wie die ETH-Bibliothek eine ist, etwas anders sein. Aber auch ohne das Primat des gedruckten Buches bleiben Bibliotheken wichtige Informationsinfrastruktureinrichtungen. Wir sind uns einig, dass sie sich entwickeln müssen (ich sage lieber: dürfen). Bibliotheken müssen (dürfen) nutzernahe neue Dienstleistungen entwickeln. Ihre Aufgabe wird angesichts „des Internets“, das heisst angesichts der ständig zunehmenden Informationsflut mit Publikationen in immer neuen Formaten und auf unterschiedlichen Kanälen, aber nicht obsolet, sondern sogar wichtiger. Rafael Ball fordert – meiner Ansicht nach durchaus zurecht – neue Geschäftsmodelle. Dies ist die radikale Form von Innovation. Leider bleibt hier aber Rafael Ball unverbindlich und liefert keine konkreten Vorschläge. Ich halte hier den Ball (kein Wortspiel…) lieber flach: auch inkrementelle Innovation macht Sinn. Wichtig ist, dass die neuen Dienstleistungen einem echten Nutzerbedürfnis entsprechen. Gerade die dänischen Kollegen haben in Aarhus gezeigt, wie man das macht (Vision- and Value Process).

Die Vision des Dokk1 baut auf das von dänischen BibliothekswissenschaftlerInnen entwickelten Modell der 4 Spaces (Beitrag im Blog Informationswissenschaft) auf. Es geht hier unter anderem darum, dass Bibliotheken vielfältige Aufgaben erfüllen, die den Menschen Raum bieten für Empowerment, zum Entdecken und zum Mitmachen. Bibliotheken können in der digitalen Informationsgesellschaft wichtige neue Funktionen übernehmen, um die Teilhabe aller zu ermöglichen. Sie haben schon lange damit begonnen, sich als Lotsen durch die unüberschaubare Informationsflut anzubieten. Sie unterstützen Kinder dabei, Feude am Lesen zu erhalten. Sie helfen SeniorInnen dabei, neue Technologien kennen zu lernen, die auch ihren Alltag beeinflussen. Sie helfen MigrantInnen und Flüchtlingen beim Lernen der Landessprache und dabei sich in unserer Gesellschaft zurecht zu finden. Und ja, sie bieten einen nichtkommerziellen (leider nur zu selten einen kostenlosen) Zugang zu Information, was sich auch in unserern Breitengraden nicht alle leisten können. Öffentliche Bibliotheken sind also wichtige Grundpfeiler unserer demokratischen Informationsgesellschaft.

Aus wissenschaftlicher Perspektive interessieren uns die momentan stattfindenen Veränderungen: was tun NutzerInnen wirklich in der Bibliothek? Wie werden die Medien genutzt? Welche Funktion erfüllt der Raum und welche neuen Funktionen sind für welche Bibliothekstypen sinnvoll? Wie bewähren sich die neuen Konzepte in der Praxis? Welche Wirkung haben die Aktivitäten der Bibliotheken? Welche Funktionen übernehmen Bibliotheken in urbanen und ländlichen Gesellschaften?

Und ja, dies sind alles Themen und Fragen, die sich im Kontext von Öffentlichen Bibliotheken stellen. Es ist nicht ganz einfach, für entsprechende Forschungsprojekte Unterstützung (sprich: Finanzierung) zu finden, aber wir versuchen es, zum Beispiel im Rahmen unseres Netzwerks NLUS.

Über die anstehenden Entwicklungen im Bereich der Wissenschaftlichen Bibliotheken habe ich an dieser Stelle schon öfters geschrieben (Übersicht über meine Reihe im Blog). Die Herausforderungen sind vielfältig. Und ein Patentrezept gibt es nicht. Aber es gibt viele Beispiele für Bibliotheken, die die Gratwanderung zwischen Bewahren der alten Stärken und der Neuerfindung schaffen. Auch wenn sie dabei gegen Vorurteile zu kämpfen haben, wie sie von Rafael Ball bedient weden. Übrigens ist auch das Argument, Bibliotheken verlören jetzt (wegen des Internets) ihr Informationsmonopol, längst widerlegt. Bibliotheken hatten nie das Informationsmonopol. Dieses falsche Argument dient zur Dramatisierung des Umbruchs in der Informationsbranche. Diese Branche ist sich allerdings einig, dass die kommerziellen Suchmaschinen und die frei verfügbaren Inhalte im Web – von Wikipedia über Zeitschriften, Blogs und viele andere Formen – die Bibliotheken herausfordern.

Ein wichtiges Stichwort ist Veränderungsbereitschaft – sie ist von den Bibliotheken als Institution und von ihren Mitarbeitenden gleichsam gefordert. Für eine eher auf Bewahrung und Stabilität ausgerichtete Branche ist dies nicht trivial. Ein aufrüttelnder Diskussionsbeitrag mag für die interne Auseinandersetzung seine Berechtigung haben. Dafür sind die im NZZ-Beitrag publizierten Argumente aber zu oberflächlich. Als Provokation nach innen gedacht, können die Aussagen aber die Anstrengungen von vielen Bibliotheken und BibliothekarInnen leichtfertig zunichte machen. Wären sie in einem Buch veröffentlicht worden, würden sie wohl nur intern zur Kenntnis genommen. Aber mit der NZZ als Plattform können sie unheilsame Wirkung in der Politik entfalten.

Aber: Totgesagte leben bekanntlich länger.

Update: im Kulturplatz auf Radio SRF2 ist am 11.2. ein Interview mit mir zum Thema gesendet worden.

 

 

 

Autor: mrudolf

Director of University Library Zurich, former Director of State and University Library Lucerne (Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern), former Professor for Library Science at HTW Chur (university of applied sciences), co-editor of Informationspraxis, co-principal investigator of the Horizon Report Library Edition, blogging on library topics - and also on mindful living (in German as Männerherz)

14 Kommentare zu „Sind Bibliotheken überflüssig? Eine Replik“

  1. Es ist gerade das Dokk1, das die zur Banalität neigende Fachdiskussion gut illustriert. Die Öffentliche Bibliothek in Aarhus besteht aus dem Dokk1 und tatsächlich 18 Zweigstellen. Die Zahl möglicher Schulbibliotheken habe ich noch nicht überprüft. Die Zahl der Bibliotheken im universitären Raum habe ich ebenso wenig untersucht. Was mir allerdings noch gar nicht begegnet ist, war der Versuch in einem Fachtext daraus die Konsequenzen zu ziehen. Das Konzept des Dokk1 wird als Zukunftsvision angepriesen. Welche Rolle spielen aber die 18 Zweigstellen und mögliche Schulbibliotheken in Aarhus. Wie passen diese sich in das Zukunftskonzept ein, welche Rolle nehmen die Universitätsbibliotheken ein? Was wird durch die jeweiligen Orte an Funktion abgedeckt und was bleibt als kommunaler Ort für das Dokk1 übrig? Diese Fragen scheinen völlig uninteressant zu sein und doch bilden eigentlich sie erst die Diskussionsgrundlage. Zum Zwecke des Lobbyismus mag es manchmal notwendig sein sich so oberflächlich zu präsentieren, aber dass die fachinterne Diskussion in dieser Form stattfindet verwirrt mich. Zu Ball vielleicht noch folgendes: wer keine Lust hat sich mit Funktion und Zukunft Öffentlicher Bibliotheken zu beschäftigen, der richtet mit solchen Texten einen beachtlichen Schaden an.

    Bibliotheken verändern sich oder auch nicht. Möglicherweise benötigen wir neue Kulturräume in Städten und Gemeinden, die einen bibliothekarischen Teil beinhalten sollten. Vielleicht sind das aber gar keine Bibliotheken. Mein Eindruck ist zuweilen, dass wir Funktion und Auftrag, beide bestimmten auch nicht wir sondern der Träger der Einrichtung (wir beraten notwendigerweise dabei), Öffentlicher Bibliotheken in offensichtlicher Ideenarmut zerreden, um eine neue Kulturinstitution aufzubauen. Letzteres mag sehr ehrenhaft sein, aber man darf schon die Frage stellen, ob der angerichtete Flurschaden nicht größer ist als ein vielleicht eintretender Nutzen. Ball illustriert in alledem nur, dass selbst die Leitungsebene großer Bibliotheken in angstvoller Ideenlosigkeit verharrt. Anders ist dieses fern von Anspruch und inhaltlicher Richtigkeit gegebene Interview kaum zu erklären. Das finde ich dann tatsächlich dramatischer als die Menge an möglichen und nötigen Veränderungen in Bibliotheken.

  2. Ich halte die Äusserungen von Herrn Ball auch für gefährlich, weil sie Politikerinnen und Politiker in ihren Sparbemühungen zu blindem Aktionismus motivieren können. Er hätte seine Aussagen etwas relativieren müssen. Im Internet findet sich mindestens 3mal so viel Quatsch wie in Bibliotheken. (Meinung statt Fakten, Werbung statt Information und Digitalisate von Büchern in denen Quatsch steht.)

  3. Am 14. Juli 1916 verlas Hugo Ball in Zürich sein dadaistisches Manifest und begründete damit eine neue Bewegung, eine Kunstrichtung. Er wollte Verse machen, die auf Sprache verzichten konnten, Worte brauchen, die nicht andere erfunden hatten – mit seinen eigenen Worten: er wollte seinen eigenen Unfug. Dada war da – aber die „andere“ Kunst auch, und sie ist es zum Glück geblieben.

    Hundert Jahre später fordert Rafael Ball, Leiter der ETH-Bibliothek in Zürich, dazu auf, die Bücher zu entsorgen – ein weiteres Zürcher Manifest. Gemeinsam ist beiden Herren Ball die Lust an der Provokation, und das ist nicht nur unterhaltend, sondern durchaus anregend. Ob das Internet die Bibliotheken überflüssig macht, wird sich weisen; sicher müssen sich Bibliotheken auf die neue Situation einstellen und einen Mehrwert gegenüber Google bieten, wenn sie überleben und nicht zu Buchmuseen und Buchasylen werden wollen. Schön die Ball‘sche Forderung, wir müssten alle Bücher digitalisieren – aber wer macht das, und zu welchem Preis, bzw. zu welchem Preis werden Nutzerinnen und Nutzer an die Dateien kommen?

    Hugo Ball trug 1917 sein Lautgedicht „Karawane“ im Cabaret Voltaire in Zürich vor. Ob seine Jolifanten der Karawane Bücher aus leergeräumten Bibliotheken abtransportierten, ist dem Gedicht leider nicht zu entnehmen. Aber Hugo Ball wandte sich rasch wieder von der Dada-Bewegung ab und suchte Sinn in der Mystik und der Religion.

    130 Jahre vor der Uraufführung des Karawanengedichts zog 1787 eine Art Karawane durch Russland, angeführt von der Zarin Katharina II, die sich auf dieser Inspektionsreise ein Bild ihres Reiches machen wollte. Ob Feldmarschall Potjomkin tatsächlich nur schöne Kulissen aufrichten liess, um die Herrscherin zu täuschen, ist zwar umstritten, aber die Potemkinschen Dörfer sind sprichwörtlich. Falls Herr Potemkin die Bevölkerung tatsächlich für diesen Betrug hat arbeiten lassen, hat er sich damit wohl wenig Freunde geschaffen.

    Rafael Ball findet, ein paar Buchattrappen in einem Regal beim Eingang würden genügen – Ballsche Bibliotheken also. Ob dieses Ziel für seine Mitarbeitenden in der Bibliothek sehr motivierend ist, mag bezweifelt werden. Über das Signal an Politik und Geldgeber braucht hier auch nicht philosophiert zu werden. Schliesslich steht in den Bibliotheken laut einem prominenten Leiter ohnehin der unglaublich viele Mist, der in der Geschichte der Menschheit geschrieben wurde. Im Internet übrigens auch.

  4. Komisch, dass keiner auf die Idee kommt, den Spieß umzudrehen und Bibliotheken zu *Buchproduzenten* werden zu lassen. Denn während sie zum Beschaffen der Literatur tatsächlich immer überflüssiger werden, brauchen wor dringend öffentlich finanzierte Verlage, die nicht den Autoren das Geld für die Buchproduktion aus der Tasche ziehen und trotzdem frei zugängliche Bücher produzieren. Mehr darüber hier: http://www.frank-m-richter.de/freescienceblog/2015/10/28/how-to-switch-quickly-to-diamond-open-access-the-best-journals-are-free-for-authors-and-readers/

  5. Die Provokation als rhetorische Form hilft der Debatte und damit der Schärfung neuer Ideen. Die Rolle nimmt der Beitrag von R . Ball wahr und liefert dann mit der Republik von R. Mumenthaler die klugen Hinweise darauf, was jenseits der Provokation ansteht. Der Unterschied zwischen öffentlichen Bibliotheken und wissenschaftlichen Bibliotheken scheint mir übrigens kleiner zu sein als man gelegentlich denkt. Die Anregungen und die wichtige Fragestellungen gelten Spartenübergreifend. Vielen Dank

  6. Zum Interview von Herrn Ball bleibt mir nur eines zu sagen: „Wenn ein Kopf und ein Buch zusammentreffen und es klingt hohl, muss es nicht immer das Buch sein.“ Es kann auch einfach der Kopf des Direktors sein, der hohl ist. Jeder, der schon einmal in einer Bibliothek gearbeitet oder ein Studium absolviert hat, weiss, dass in den Direktionen nicht immer die besten Leute arbeiten (von Frau Doffey vielleicht einmal abgesehen). Insofern war mir der Sachverhalt nicht neu. Ansonsten bin ich wirklich sprachlos über so viel Unverfrorenheit gegenüber unseren Gemeindebibliotheken/GemeindebibliothekarInnen sowie armen Menschen, die sich keine Bücher leisten können. Ich möchte aber auch sagen: Es gibt noch BibliothekswissenschaftlerInnen wie z.B. Herrn Schuldt von der HTW Chur, der forscht und publiziert zum Thema Bibliotheksangebote für Menschen aus armen Kontexten. Mich wundert ehrlich gesagt, dass die HTW Chur früher nie auf die Idee gekommen ist, zu diesem Überthema mal eine Bachelor- oder Masterarbeit auszuschreiben. Das wäre doch etwas für eine super Arbeit.

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